Während ich das Inhaltsverzeichnis des alten Buches mit Leineneinband von 1922 durchstreife, fällt mir der Begriff "Mummelpelz" ins Auge. Das wäre doch einen Versuch wert, denn der Hase begleitet uns seit Tagen. In Bessungen und Darmstadt an unterschiedlichsten Orten in natura und in allen möglichen Darstellungsformen - und nun auch auf dem Buchcover dieses Buches mit Manfred Kybers Tiergeschichten. Weiter unten im Inhaltsverzeichnis, das noch in Süterlinschrift gedruckt ist, finde ich die Geschichte: "Der Pilger mit dem schleppenden Hinterbein". Der Titel "zieht" eindeutig mehr, denn seit geraumer Zeit hat Sesto wechselnde Beschwerden den Rücken abwärts, und besonders in einem Bein sind die Schmerzen teils so heftig, dass sein "aufrechter Gang" darunter leidet. Neugierig lese ich, und staune erneut über diese "echte" Kyber-Geschichte. Ihren Autor habe ich vor 25 Jahren mit einem Buch aus dem Antiquariat entdeckt: "Die drei Lichter der kleinen Veronika". Kyber schreibt in dem spirituellen "Roman einer Kinderseele" über "das Licht" und "die himmlischen Augen", die den Kindern ermöglichen Dinge jenseits der alltäglichen Wahrnehmung zu sehen. Dort heisst es: "Schau ins Leben und ins Licht, kleine Veronika, ehe die himmlischen Augen eingeschlafen sind ... " Kyber zu lesen, lässt einen spüren und ahnen, dass noch eine "kleine Wachheit" für diese kindliche Sicht der Dinge in uns schlummert. Aber, lest einfach selber: Der Pilger mit dem schleppenden Hinterbein Ein kleiner Käfer krabbelte mühsam auf steinigem Weg. Es waren viele Hindernisse auf seiner Straße. Strohhalme und sonstige schwer zu bewältigende Gegenstände. Es war recht anstrengend. Fliegen konnte er nicht. Es war ein Krabbelkäfer. Zudem war sein linkes Hinterbein verkümmert – schon von Geburt an. Er schleppte es nach. Es war ein trauriger Fall. Aber er pilgerte tapfer weiter. Käfer gehen nicht und wandern nicht. Sie pilgern. Das ist ein großer Unterschied. »Gehen Sie doch aus dem Wege!« schrie eine Hummel, namens Summser, den Pilger an und brummte böse.
»Strolcht so was auf der Straße herum und stört achtbare Damen, die sich auf Blumenmarkt begeben!« »Entschuldigen Sie«, sagte der Pilger mit dem schleppenden Hinterbein, »ich muß pilgern, ich bin ein Krüppel.« Er wies mit dem Fühlhorn auf das verkümmerte Hinterbein. »So, so«, sagte Frau Summser mitleidig, dann ist es etwas anderes. Das habe ich nicht gesehen. Ich war so eilig. Wenn man heutzutage nicht sehr zeitig an die Blumen kommt, ist alles vergriffen. Die Konkurrenz ist so sehr groß. Aber warum müssen Sie denn pilgern? Wäre es mit Ihrem Bein nicht besser, zu Hause zu bleiben? Sie müßten heiraten. Dann haben Sie wenigstens Ihre regelmäßigen Mahlzeiten.« »Nein, ich muß pilgern«, sagte der Pilger mit dem schleppenden Hinterbein. »Ein alter Käfer, den ich meines Leidens wegen konsultierte, sagte mir das. Er sprach von der Religion des heiligen Skarabäus und sagte, ich müsse das Rad des Lebens suchen. Das ist ein sehr alter Glaube und ein großer Trost für atme Krabbelkäfer.« »Und was hat man davon?« fragte Frau Summser. »Es ist doch gewiß viel vernünftiger, rechtzeitig auf den Markt zu kommen.« Der kleine Käfer zog das verkrüppelte Bein mit einer zuckenden Bewegung an den Körper, so daß es nicht mehr zu sehen war. »Man kann ein Rosenkäfer werden«, sagte er geheimnisvoll. »Ist das ein lohnender Beruf?« fragte Frau Summser. Sie war eine überaus praktische Hausfrau. Ihre Honigtöpfe waren unübertroffen und bekannt im ganzen Umkreis eines Insektenfluges. »Man glänzt dann wie flüssiges Gold, und man kann fliegen. Man ruht in den Rosen und atmet ihren Duft.« Frau Summser wurde hierdurch an ihren Markt erinnert. »Jetzt muß ich mich wirklich beeilen«, sagte sie, »die Konkurrenz ist eine zu große heutzutage. Jedenfalls wünsche ich Ihnen alles Gute.« Der Pilger mit dem schleppenden Hinterbein pilgerte weiter. Über den Weg kam ein Wagen gefahren. Das ist das Rad des Lebens, dachte der Pilger mit dem schleppenden Hinterbein und hastete darauf zu. Das Rad ging über ihn hinweg. Auf dem Wege war nichts als eine formlose Masse. Zur selben Stunde kroch im sonnigen Süden ein kleiner Rosenkäfer aus dem Ei. Ganz zuerst betastete er mit dem Fühlhorn sein linkes Hinterbein. Er wußte selbst nicht, warum er das tat. Das linke Hinterbein war gesund und kräftig und glänzte wie flüssiges Gold. Es war fast noch schöner und glänzender als die anderen Beine. Die Rosen dufteten. Das Rad des Lebens ging weiter. Manfred Kyber, 1.März 1880 – 10.März 1933, schrieb anfangs Texte für Kleinkunstbühnen und errang erste Bekanntheit mit der Veröffentlichung neuromantischer Lyrik. Seine Märchen und Tiergeschichten, vielfach übersetzt, in zahlreichen Anthologien aufgenommen und in hoher Auflage verbreitet, zeichnen sich aus durch humorvoll kritischen Bezug auf die menschliche Gesellschaft. Engagierte Veröffentlichungen zum Tierschutz, kritische Schriften zur Kultur sowie Beiträge zu Fragen der Religion und den Grenzgebieten unseres Daseins bestimmten weiterhin das Schaffen Manfred Kybers. Quelle Links Dass ich den Text der Pilger-Geschichte von Manfred Kyber nicht abtippen musste, habe ich dem Projekt Gutenberg zu verdanken und auch die Geschichte der kleinen Veronika kann man dort lesen
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Gabriele Castagnoli hat hier ab April 2016 über zwei Jahre die Pilgerschaft mit ihrem Mann Sesto G. Castagnoli beschrieben. Archive
September 2018
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